Es gibt allerdings viele Menschen, bei denen die Sache umgekehrt ist, und die vom Kopf oder vom Herzen regiert werden. Die einen sind die gefühllosen Verstandesmenschen, die anderen fließen von
Empfindungen über, haben aber nirgends einen sichern Haltpunkt. Der allzu Sentimentale vertändelt oder vertrauert das Leben; der bloße Verstandesmensch hat keinen Glauben, keine Hoffnung, keine
Liebe; er kennt die Würde der Menschennatur höchstens vom Hörensagen oder aus Büchern. Das Leben des Menschen ist eine köstliche Lampe, von welcher vielerlei Lichter mit verschiedenfarbigen
Strahlen ausgehen, deren Zusammenfluss die Sonne des Ichs bildet und ihm sein individuelles Gepräge erteilt. Diese Sonne soll sich stets vergrößern durch Tätigkeit und Fleiß. Sie muss sich der
Zersplitterung entziehen, womit die Welt sie immerdar bedroht. Ihre Pflicht ist es, sich zu sammeln und vor Zerstreuung zu bewahren; dann nimmt der Mensch zu an Gediegenheit und Kraft, und lernt
alle die geistigen Eigenschaften erkennen, die früher in ihm geschlummert haben. So übt der Mensch die Pflichten gegen sich selbst aus und erfährt, welche Früchte durch die Selbsterkenntnis zu
erringen sind.
Die Pflichten gegen Gott lassen sich nur aus der Erkenntnis Gottes (Theosophie) erklären. Die Erkenntnis Gottes aber ist nur möglich durch das lebendige Wort, das in der Natur des Menschen liegt
und immerdar spricht, wenn man sich fähig macht, es zu hören. Deshalb ist es unsere erste Pflicht, das lebendige Wort zu suchen, um durch dasselbe den Keim der Unsterblichkeit in uns selbst zur
vollendeten Pflanze zu ziehen. Wenn Gott in uns ist, so ist es nötig, uns selbst kennen zu lernen, um ihn zu finden. Selbsterkenntnis ist somit die erste Pflicht des Menschen gegen sich selbst,
aber es ist auch die schwerste. Die meisten Menschen sind überall, nur nicht bei sich selbst. Der Mensch geht auf der Erde, schwärmt im Himmel und glaubt bei Gott zu sein; aber in sich selbst mag
er nicht einkehren, obgleich er nirgends als im Innern seinen Zufluchtsort finden kann. Er mag die Stimme des Predigers in der Wüste, die in ihm ist, nicht hören, die Wüste nicht urbar machen, um
endlich Früchte des Lebens darin zu ziehen. Die Welt ist das Hindernis der Selbsterkenntnis. Sie hat ihre Ketten um uns geschlungen, und wir fürchten uns vor der Freiheit der Selbständigkeit. Wir
nennen uns „Freimaurer“ und kennen noch nicht einmal die Türe des Tempels, in den wir einzugehen haben.
Ein paar Augenblicke der Lichteinwirkung können der Pflanze nicht viel nützen, wenn sie ihre Herrlichkeit entfalten soll, so muss sie vom Lichte durchdrungen sein. Der Schimmelpilz im dunkeln
Keller würde, wenn er denken könnte, glauben, das herrlichste Gebilde der Welt zu sein, weil er nichts Besseres kennt. So sind die Gelehrten, die alles, was sie nicht in ihren Büchern gelesen
haben, für nichts achten. Bücher und Hörsäle sind ihre Sonnen und Lichter; von dem lebendigen Lichte der Wahrheit im Innern des erleuchteten Menschen haben sie keine Ahnung und können es nicht
begreifen.
Der Mensch ist ein lebendiger Acker, auf dem dasjenige wächst, was man pflanzt und pflegt. Siehe dich vor, was du säest, damit du nicht um die Ernte kommst. Die Zeit des Wachsens ist kurz, die
Ewigkeit lang. Es wächst in dir, ob du säest oder nicht. Willst du Unkraut, so lebe dahin, wie dich der Augenblick, der Zufall, die Launen, Begierden und Leidenschaften führen; willst du aber
etwas Gutes ernten, so sorge für deine Zukunft; sie liegt in deinen Händen. Kannst du mehr verlangen von der ewigen Liebe des Vaters?
Darum sind die Menschen so darauf erpicht, viel zu lernen und viel zu wissen. Die Frucht (der Erkenntnis), die nicht am Stamme gewachsen, sondern nur geborgt ist, verfault, und muss durch eine
andere ersetzt werden. Daher das unaufhörliche Haschen nach neuem Wissen und neuen Erfahrungen; daher der Kampf und die Unruhe, welche keine Ruhe aufkommen lässt. Wer aber guten Samen bewahrt und
die echte Frucht errungen hat, braucht nicht länger zu suchen; er hat in sich selbst den Baum der Erkenntnis, der ihn über seine Bestimmung belehrt und ihm in allen Verhältnissen des Lebens eine
sichere Stütze bietet.
Wo ist dieser Weg? Durch die Mitte, durch den Strom, durch die Flut, durch die Sünde; hindurch durch alles, was nicht Mensch ist, was sich der Mensch nur angekünstelt hat. Dahin, wo er den Anfang
nahm, wo ein reiner Samen unter vielem Unkrautsamen verborgen liegt, zur ersten Quelle, wo er ins Leben überging, wo seine ersten Pulse sich regten, wo nichts war als Leben, das er empfing;
dorthin muss der Mensch zurück, und aus dem bessern Samenkorn ein neues Dasein ziehen. Dann wächst er auf in Gott und lebt in Gott, und kennt ihn in sich selber durch die Kraft, durch das Wort,
durch den Himmel, der sich jetzt überall vor ihm und um ihn ausgegossen hat.
Der Mensch hat äußere und innere Sinne; die Tätigkeit beider aber ist dieselbe. Er hat auch eine innere Sprache, die mit den inneren Sinnen in völliger Übereinstimmung steht. Diese innere
Tätigkeit der Sinne und Sprache ist dem Menschen durch seine aufrechte Stellung von der Natur gegeben, und wenn er sich daran gewöhnt, in diesen zu leben und zu handeln, so hat er die Bestimmung
seines Lebens erreicht. Aber wie weit sind wir noch vom Ziele entfernt. Wie sehr haben wir uns gewöhnt, Schattenbildern zu folgen, die wir für reine Lichter halten! Wie sehr haben wir die innere
Sprache, das innere Auge, gegen auswendig gelerntes Zeug aus zweiter Hand vertauscht, und sind dadurch von unserm wahren Ziele, der Selbsterkenntnis abgekommen! Die Pflanze kennt ihr Ziel und
erreicht es; das Tier erkennt und erreicht es; der Mensch erkennt und erreicht es in der Regel nicht; ja diese Erreichung des Zieles wird dem Menschen von den Menschen erschwert, er wird daran
gehindert und deshalb verfolgt.
Inneres Auge! Inneres Ohr! Innere Stimme! Dich wollen wir wieder gewinnen, damit wir uns selbst in der Wahrheit erkennen, und uns das Gezanke der Schulgelehrten nicht länger betört.
Das Leben ist keine theoretische Wissenschaft, es ist praktisch; denn sonst müsste der Gelehrte mehr Lebensfähigkeit haben als der Landbewohner. Wir sehen aber in der Regel das Gegenteil. Können
ist mehr als Wissen. Wer etwas kann, der hat das Wissen in sich selbst. Alles Praktische muss man können; das Wissen davon hat nebensächlichen Wert. Alle Theorien nützen nichts, wenn man sie
nicht ausüben kann. Alles Praktische beruht auf Können, und es gibt zweierlei Arten davon, die mechanische und die freie Kunst.
Der Geist ist die Triebkraft, der Beweggrund aller Lebensfähigkeit; er baut sich seine Werkzeuge, um sichtbar zu wirken. Durch alle Organe des Körpers erblicken wir seine Tätigkeit. Jedem Wesen
ist sein Stempel aufgedrückt, welcher sein höchstes Streben, seine höchsten Pflichten, sein höchstes Ziel andeutet. Jedes Geschöpf bemüht sich, diese seine höchste Kraft zu entwickeln. Die Ameise
ist ununterbrochen beschäftigt, ihren Bau zu vergrößern; die Biene scheint nichts zu wollen, als ein vollendetes, mit Honig gefülltes Haus; jede Tiergattung widmet ihr Leben der vollkommensten,
ihr eigenen Kraft und findet darin ihren Lebensgenuss. Nur der Mensch zersplittert seine Kräfte für vielerlei unnütze Dinge.
Meine Brüder! Wir sind Mitglieder dieser heiligen Baugesellschaft. Wir sind aber nicht sowohl Lehrer, als Mitarbeiter. Nicht nur in Worten allein, sondern im Handeln, in Arbeit und Tätigkeit muss
unsere Liebe sich zeigen. Dies ist es, was so manchen zurückschreckt; dies ist die Ursache, warum so mancher auf dem schon begonnenen Wege stillsteht, weil er alltägliche Verhältnisse nicht
besiegen kann, weil Trägheit, Eitelkeit und sinnliche Lüste die Schwingen seines Geistes lähmen, weil Hochmut, Zorn, Widerspruch, üble Laune, Wohlleben, Heuchelei, Selbstsucht, Ehrgeiz und das
ganze Heer egoistischer Triebe ihn dergestalt umringen, dass er sein besseres Selbst gar nicht zu finden vermag. Handeln, Arbeit ist unsere Pflicht. Steine behauen, sie in vorgeschriebener Form
zum großen Tempelbau zu liefern, ist unsere unausgesetzte tägliche Arbeit. Darum müssen wir alles, was uns auf unserer Künstlerlaufbahn stört, beseitigen, uns zuerst selbst reinigen und
bearbeiten; dann aber auf unsere nächsten Umgebungen, auf Familienglieder, auf Freunde, Verwandte und Nachbarn wirken, und so tagtäglich den Kreis unserer Liebe erweitern, bis er zuletzt die
ganze Menschheit und endlich die Gottheit selbst umfasst.
Wir sehen hieraus, dass es für den Menschen ein positives Naturgesetz gibt, welches ihm zeigt, warum und wozu er freien Willen besitzt. Er soll sich mit diesen Kräften einen vollkommeneren Leib
erzeugen, der über allem Leiden erhaben ist. Seine Geistesfreiheit ist nicht dazu da, um tierischen Bedürfnissen allein zu leben. Dazu waren solche göttliche Einrichtungen nicht nötig. Der
niedrigste Wurm kann sich nähren und seine Gattung fortpflanzen; freie Eigenschaften, Erkenntnis und Wille, müssen über dem Augenblick stehen und in die Ewigkeit schauen.
„Wer Hilfe sucht, wird sie finden; aber wer der Trägheit sich überlässt, dem bleibt das Wesen verschlossen, welches ihm gegeben ist zum Aufbau seiner künftigen Herrlichkeit.“
"Du setzest mich in Erstaunen!“ sprach der Fremde. „Wenn der Mensch sich selber zur Liebe zu stimmen vermag, so hat er ja das Glück in seinen Händen; denn wo Liebe wohnt, ist Glück. Nach dieser
Lehre hört aller fremde Einfluss, aller Mystizismus und Dämonismus auf, und der Mensch, als ein Geschöpf der Natur, braucht nur in der Natur zu suchen und zu lesen, um alles zu erringen, was ihm
nötig und nützlich ist.“
„So suche das Verständnis. Die gewöhnliche Liebe sucht äußere Formen, die Liebe zu Gott innere; beide aber müssen sich im Herzen wieder finden, sonst sind sie sinnlich. Im Herzen empfangen sie
die Weihe zum Leben und gewinnen dadurch Selbständigkeit und Dauer für diesseits und jenseits. Übe die Lehre aus.“
P. Du meinst, die Natur könne keinen Mittelpunkt haben, weil du ihn nicht kennst. Die reine Philosophie lehrt: In der Schöpfung ist vollkommene Ordnung. Ordnung ohne Absicht ist nicht denkbar,
und da Absicht Bewusstsein in sich schließt, so herrscht ein Geist in der ganzen Natur, der alles weiß und kennt und, auf diese Erkenntnis gegründet, seiner Natur freien Spielraum lässt, zu
schaffen und zu bauen. Nun wirst du fragen: „Wo ist der Zentralpunkt dieses Wissens in der Natur?“ Dagegen kann ich dich fragen: „Wo ist der Zentralpunkt deines Wissens?“ Hat nicht jedes Organ in
dir seine eigenen Empfindungen und Urteile? Willst du untersuchen, wo der Zentralpunkt aller dieser Beobachtungen sei, so wirst du zu keinem anderen Schluss kommen, als dass unser Zentralpunkt in
der Sprache ist. Wo diese spricht, da ist unser Ich, und ebenso in der Natur. Wo die Sprache, das Wort sich regt, da ist Natur-Ich und gibt sich durch sich selbst zu erkennen, so wie unsere Hand,
wenn sie einen weichen Stoff berührt, ohne irgendeine andere Beihilfe, uns durch das Gefühl sagt: „Was ich berühre ist weich.“
Das von Menschen Zusammengetragene muss notwendig einen Namen haben, weil man sonst weder von seiner Kraft noch von seiner Wirkung eine bestimmte Ansicht erlangen könnte. Die Natur spricht nicht:
„Jetzt will ich einen Baum erzeugen.“ Der Same des Baumes ist ihr Wort und besteht in der Zusammensetzung ihrer Sprachelemente, welche ihn zum Keimen, Reifen, Blühen und Früchtetragen bringen. So
spricht die Natur ohne Umschweife sich selber aus.
Diejenige Sprache aber, welche in unserm Innern uns durch den Hauch des Ewigen mitgeteilt wird und sich in uns regt, diese Sprache, welche die ältesten Weisen schon das Wort der Ewigkeit nannten,
die als reiner Gedanke, oft schnell, oft langsam, zu uns heraustritt, um uns zu lehren und zu stärken, ist es, die alle jene erhabenen Eigenschaften besitzt.